Wissenspatente im Zeitalter des Common Law und der zweiten neoliberalen Verwertungsrunde

Franz Schneider, Saarbrücken

Renditen im wachstumsverwöhnten Industriezeitalter der Nachkriegsepoche und des idyllischen Keynes-Zeitalters haben ihre Anziehungskraft für das Kapital schon lange verloren. Schwindende Renditen aus der physischen Arbeit der Beschäftigten mussten Renditen aus Finanzmarktspekulationen Platz machen. Zugetragen hat sich die „Ausschlachtung“ des virtuellen Kapitals in der ersten neoliberalen Phase. Die Attraktivität von Spekulationen hat allerdings auch Federn lassen müssen, da sich diese dubiosen Transaktionen immer wieder als Destabilisatoren des gesamten Finanz- und Wirtschaftssystems erwiesen haben.

Seit einigen Jahren befinden wir uns in der zweiten neoliberalen Phase. Das letzte und deutlichste Signal hierfür erfolgte durch den Brexit. Der Brexit wurde im Hintergrund von Hedge Funds, den weltweit größten Vermögenswaltern à la Blackrock und vierhundert britisch-amerikanischen Think Tanks befeuert. Dies geschah gegen die Interessen der gut und bequem seit Jahrzehnten miteinander vernetzten „alten“ Bankenwelt. Mit dem Brexit erfolgte die Befreiung des Kapitals aus dem zu eng gewordenen Regelwerk der Europäischen Verträge. Die arbeitslosen und vom Prekariat gezeichneten englischen Brexit-Befürworter bemerkten leider zu spät, wie sehr sie von den Großvermögensverwaltern instrumentalisiert wurden. Nun aber sind die Rendite-Schleusen geöffnet vor den Toren des noch etwas bedeppert dastehenden EU-Publikums in Brüssel. Das wird sich aber arrangieren lassen. Kapitalfreundliche Regierungen und stets mit Blick nach vorne gerichtete Entscheider aus der kontinentaleuropäischen Unternehmens- und Bankenweltwelt werden das Pferd schon schaukeln. Die EZB wird auch nicht abseits stehen bleiben wollen.

Die allein und alles entscheidende Frage jedenfalls, die sich für das internationale Kapital stellt, ist folgende: unter welchen Bedingungen können wir in der anstehenden neuen Verwertungsrunde die größte Rendite erzielen.

Folgende Bedingungen müssen erfüllt werden:

1. Der Beitrag des Staates zur störungsfreien Kapitalverwertung muss beträchtlich erhöht werden. In der hinter uns liegenden ersten Phase des Neoliberalismus versuchte er zwar (Dotcom-Blase 2000, Finanzkrise 2008) zu retten, was zu retten war. Sein Beitrag ist dennoch nach Vorstellungen des Kapitals zu gering. Der Staat muss jetzt ran. Er muss seine Kontrollfunktion gegenüber der ihm unterstellten Bevölkerung verstärkt wahrnehmen, um für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. In „demokratischen“ Regierungssystemen wird dafür die „soft-power-Strategie“ vor allem in Form der inneren Formatierung des Menschen (jedes Individuum ist sein eigener Unternehmer) eingeschlagen. Entwicklungen hin zu autoritärem Regierungshandeln sind nicht ausgeschlossen.

2. Der Staat muss selbst eine verstärkte Rolle als Renditebringer für das Kapital übernehmen. Das Instrument hierfür ist das eigene Geldschöpfungsmonopol, ausgeführt durch die Zentralbanken. Eine Geldtheorie, die Modern Monetary Theory, weist ausdrücklich darauf hin, dass das vom Staat in die Wirtschaft gelenkte Geld zur Nettovermögenssteigerung des Privatsektors führt. Das heißt auch, dass die Interessen von staatlichen Regierungen und Zentralbanken sich immer stärker überlappen. Das europäische Zentralbankmodell hat hier noch eine zeitliche Verspätung gegenüber dem US-amerikanischen der FED (aufzuholen). Die FED ist eine staatlich-private Mischkonstruktion.

3. Das private Geldschöpfungsmonopol (Giralgeld der Geschäftsbanken) wird an Bedeutung verlieren. In die Lücke werden Privatgeldformen stoßen. Zurzeit steht der DIEM an. Es handelt sich dabei um die noch in frischer Erinnerung stehende LIBRA, die inzwischen den Namen gewechselt hat. Dies geschah, nachdem sich aus dem Währungssyndikat, in dem Google, Apple, Facebook und Amazon den Ton angeben – bezeichnenderweise – zuerst beteiligte Bank- und Versicherungsakteure zurückgezogen hatten. Zukünftige Arrangements werden diese Differenzen sicherlich ausbügeln. Kapital arrangiert sich immer irgendwie. Im Übrigen liegen tausende von Patentanmeldungen für Privatwährungen vor.

4. Der „Stoff“, aus dem die Rendite gesaugt wird, wird sich angesichts der dramatischen Plünderung des Planeten und der Kontaminierung (Vergiftung/Verseuchung) der Umwelt ändern. Die grauen Zellen, das Wissen, als letzte verbliebene Renditequelle werden herhalten müssen.

5. Das Rechtssystem muss weltweit so ausgerichtet werden, dass es das Wissen immer stärker zur privaten Eigentumsform erklärt und optimal vor Zugriffen der Öffentlichkeit, einschließlich des Staates, schützt.


Zu den beiden letzten Punkte ein paar Präzisierungen.

Die Herausforderung, vor die sich das renditesuchende internationale Kapital gestellt sieht, besteht darin, die erfinderischsten Menschen zu rekrutieren und deren Wissen durch Patente abzusichern. Die Sicherung der Eigentumsrechte geschieht nach allen bisherigen Erfahrungen mit staatlicher Rückendeckung. Der Staat reicht seine „helfende Hand“, in der Hoffnung, dass er aus dem erwarteten Wirtschaftswachstum ein wenig für seine Bevölkerung zu deren Beruhigung abzweigen kann.

Bei der rechtlichen Codierung, d.h. Absicherung der privaten Eigentumsrechte spielen Regierungen eine in aller Regel passive Rolle. Öffentlich vernehmbare Verhandlungen zwischen öffentlicher und privater Gewalt sind eher die Ausnahme als die Regel. Die Leitmedien spielen da sowieso nicht mit. Die Codierung erfolgt nicht auf einen Schlag, sondern zumeist in kleinen einzelnen Schritten. Die Regelungen werden nicht in Gerichtsverhandlungen getroffen, sondern sind privaten Anwälten unter Ausschluss der Öffentlichkeit überlassen.

Das hat zur Folge, dass Patente kaum noch rechtlich und gesetzlich beschränkt sind. Ermöglicht wurde diese Entwicklung dadurch, dass das sogenannte Common Law, d.h. das englische Recht und das Recht des US-Bundesstaates New York die weltweite Führung übernommen hat. Nationale Rechtssysteme unterwerfen sich dieser Veränderung recht willig. Das kontinentaleuropäische Civil Law, das Zivilrecht, wird dadurch immer weiter zurückgedrängt. Im Common Law spielen Anwälte und am konkreten Fall orientierte Gerichte die Hauptrolle. Im Civil Law am Gesetz orientierte Gerichte. Die Auslegungsspielräume des Common Law sind bedeutend größer, da sie in viel geringerem Maße gesetzlichen und rechtlichen Beschränkungen unterliegen. Kapital- und Renditeansprüche lassen sich so flexibel mit dem Common Law vereinbaren. Grundsätzlich agiert das Common Law viel autonomer gegenüber dem Staat. Eine weltweite private Schiedsgerichtsbarkeit zum Schutz von Investitionen von Konzernen ist der sichtbarste Ausdruck der Privatisierung des Rechts.

US-amerikanische Spitzenkanzleien beschäftigen bis zu 1800 Anwälte. Da können auch die größten deutschen, französischen etc. Kanzleien nicht mithalten. Diese suchen daher verständlicherweise den Anschluss an das Common Law, um international agierende Unternehmen beraten zu können.

Die Überlegenheit des Common Law gegenüber dem Civil Law im Hinblick auf die Abdeckung rechtlich noch nicht geregelter Umstände besteht darin, dass es mit großer juristischer Kreativität bestehenden gesetzlichen und rechtlichen Regelungen „aus dem Weg gehen“ bzw. unangreifbar über diese hinausgehen kann. Allzu große Hoffnungen, den Impfpatenten der Pharmakonzerne an den Kragen gehen zu können, sind daher wenig berechtigt. Das, was von Brüssel zu vernehmen ist, bestätigt eher diese Vermutung.


Den Ausführungen liegen Überlegungen aus zwei Publikationen zugrunde:
Katharina Pistor, Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, 2020, engl. Originalausgabe The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality, 2019). Katharina Pistor bildet als Jura-Professorin und Direktorin des Center on Global Legal Transformation an der Law School der Columbia University in New York Sptzenanwälte der Welt aus. Sie hat sich ihren kritischen Geist bewahrt. Ihr Buch wurde von der Financial Times und von Business Insider zu einem der besten Bücher 2019 gekürt.

Marlène Benquet/Théo Bourgeron, La finance autoritaire. Vers la fin du néolibéralisme, 2021.