Das Jahr 1971 stellt einen weltweiten Wendepunkt dar, der in seiner ganzen Dimension und Bedeutung für eine perspektivische linke Politik noch nicht wirklich erfasst ist.
Die Ära des Bretton-Woods-Systems ist beendet, eine neue Ära nach diesem System beginnt.
Die westdeutsche Nachkriegsära der 50er und 60er Jahre war von einem Daueraufschwung der Wirtschaft geprägt. Der zu verteilende Kuchen zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen wuchs ständig. Der Konflikt Arbeit-Kapital konnte stark abgemildert werden. Es herrschte quasi Vollbeschäftigung. Die „Entproletarisierung“ der Arbeiterschaft nahm durch die Einbindung ins Unternehmensgeschehen – Mitbestimmung, Arbeitnehmerbeteiligungen – konkrete Formen an. Stolze Gewerkschaftsführer prägten das Bild. Streiks für Lohnerhöhungen Kluncker-Runde erreichten in aller Regel ihr Ziel. Höhepunkt die Kluncker-Runde 1973 mit einer Erhöhung um 11%. Eine homogene Arbeitnehmerschaft (Industriearbeiter, Öffentlicher Dienst) war durch eine homogene Form der Ansprache erreichbar und mobilisierbar.
All dies änderte sich schlagartig 1971 mit der Aufkündigung der Goldbindung des Dollars durch Nixon bzw. endgültig mit der Beendigung von Interventionen der Zentralbanken 1973.
Ein neues Zeitalter begann. Das des Neoliberalismus. Wechselkurse, die bisher innerhalb einer gewissen Bandbreite in Schach gehalten wurden, begannen frei zu „floaten“ (Großbritannien, Irland, Italien). Der Europäische Wechselkursverbund (Frankreich, Westdeutschland, Dänemark, Beneluxstaaten) versuchte noch einige Jahre mit der „Währungsschlange“ dagegenzuhalten. Die Schleusen waren geöffnet für das weltweit nach Anlagemöglichkeiten suchende internationale Kapital. Gewerkschaften wurden „platt“ gemacht (Maggie Thatcher in den achtziger Jahren in England). Währungen wurden Objekte spekulativer Angriffe (George Soros‘ Angriff auf das britische Pfund Sterling 1992). Das Zeitalter des Nachkriegs-Keynesianismus, der dem Staat fiskalpolitische Handlungsspielräume ermöglichte, ging zu Ende. Das Zeitalter des Monetarismus mit einer starken Akzentuierung geldpolitischer Steuerungsmöglichkeiten der Zentralbanken begann. Die Schwächung staatlicher Regierungen, die sich in vielen Fällen aktiv an ihrer Selbstentmachtung beteiligten, fand in weltweiten Privatisierungen ihren sichtbarsten Ausdruck. Öffentliches Vermögen wurde zu Schleuderpreisen an das Kapital verramscht.
In dieser Gemengelage behielt natürlich der grundlegende Konflikt Kapital-Arbeit weiterhin seine volle Gültigkeit. Er wurde aber einer grundlegenden Neukonfiguration unterzogen. Die Strategie gegenüber den Beschäftigten wurde radikal geändert. Das Visier wurde schärfer gestellt. Der Konflikt wurde von der Straße ins Innere eines jeden Subjekts verlegt.
Die Verinnerlichungstrategie verfährt mehrgleisig. Sie isoliert das Individuum und sie macht es zum Schuldigen.
Jeder Lohnabhängige wird zum eigenen Unternehmer auf mehr oder weniger „sanfte“ Weise „umerzogen“. Eine gewisse Empfänglichkeit für eine solche Strategie zeigte sich ja schon in der Bereitwilligkeit des „entproletarisierten“ „mitbestimmenden“ Lohnabhängigen im westdeutschen Wirtschaftswunderland. Wir erinnern uns an die Ich-AG, die sich die Hartz IV Erfinder ausdachten. Sie war zwar für Arbeitslose gedacht, macht aber sehr gut deutlich, worauf sich alle Beschäftigten einzustellen hatten. Jedes Individuum muss an sich selbst arbeiten, um als „Humankapital“ so produktiv wie möglich für das Unternehmen zu werden. Als selbstverantwortlicher „Ich-Unternehmer“ muss es natürlich alle Kosten und Risiken übernehmen. Man kann von einer Externalisierung der Kosten des Unternehmers jeden einzelnen Beschäftigten sprechen. Dieser Prozess ging einher mit der Abnahme solidarischer kollektivvertraglicher Regelungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Dagegen wurde die Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber immer mehr zu einer individualvertraglichen Angelegenheit. Selbst der Hartz IV Empfänger muss sich in einem Vertrag, der Eingliederungsvereinbarung, verpflichten, bestimmte Leistungen und Pflichten zu erbringen, um die Sozialleistung zu erhalten. Bei Nichteinhaltung folgt die Sanktion auf den Fuß.
Hinter individuell „ausgehandelten“ Vertragsbedingungen steht eine gezielte Vereinzelungsstrategie. Sie lasten allein dem Individuum die Übernahme der vollen Verantwortung für sein Handeln auf.
Erfüllt das Individuum seine vertraglichen Verflichtungen nicht, wird es zum Schuldigen. Die grundlegende Machtbeziehung, die dem neoliberalen Kapitalismus zugrundeliegt, ist moralischer Natur. Die Machtbeziehung bedient sich der Moral als Waffe. Salopp ausgedrückt. Sie erzeugt in einem Schuldigen ein schlechtes Gewissen. Schuld wird erzeugt, um den Schuldigen zur Begleichung seiner Schuld(en) zu zwingen. Der sich schuldig Fühlende ist der beste Garant für die Zahlung seiner Schulden. Wie eng „Schuld“ und „Schulden“ in der Vorstellungswelt eines Menschen miteinander verkoppelt werden können, wird besonders gut in der deutschen Sprache deutlich. Sie verfügt über die Wörter „Schuld“ und „Schulden“. Der Schuldner, der seine Schulden nicht bezahlen kann, ist „schuldig“. Er ist ganz alleine selbst schuld an seiner Situation und niemand sonst.
Ist erst einmal der „Schuldige“ erzeugt und formatiert, bedarf es nur noch der Schuldenerzeugung und des rettenden Kreditangebots, um die Rendite einzufahren.
Der neoliberale Klassenkampf wird weltweit durch Schuld- und Schuldenerzeugung geführt. Wieso ist das überhaupt möglich? Weil Schuld und Schulden die allgemeinste und universalste Form von Machtausübung ermöglichen. Diese braucht sich weder um nationale Grenzen, noch um die Zugehörigkeit zur Nord- oder Südhalbkugel, noch um unterschiedliche persönliche Situationen, noch um Ursachen von Verschuldung und Überschuldung usw zu kümmern. Der Schuldner MUSS dem Gläubiger seine Schulden bezahlen. Er muss sein Versprechen einlösen. Ende der Diskussion.
Schulden sind zum Treibstoff von Wirtschaft und Wachstum geworden. Wer kann Schulden erzeugen? Wie werden Schulden erzeugt? Zwei Formen von Geld sind zu unterscheiden. Einmal in Form von Kapital und einmal in Form von Löhnen und Einkommen. Geld als Kapital wird zur Finanzierung eingesetzt. Löhne und Einkommen dienen dem Konsumieren. Mit Löhnen werden schon hergestellte Güter bezahlt. Durch Finanzieren werden noch herzustellende Güter fiktiv vorfinanziert. Der vorfinanzierende Gläubiger will an der Zukunft verdienen.
Wieso fiktive Vorfinanzierung?
Bis vor wenigen Jahren noch machten die Finanzierungsgewaltigen dieser Welt, allen voran die Geschäftsbanken, die Öffentlichkeit glauben, dass man zuerst sparen müsse, um dann zu investieren. Viele Banken, unwissende oder wider besseres Wissen handelnde Politiker, Ökonomen und Medien versuchen immer noch, den Menschen dieses Märchen zu erzählen. Da steckt natürlich auch viel Moralin drin. Sei erst mal fleißig und spare, dann darfst Du Dir auch etwas bekommen, was Du gerne möchtest. Ersparnisse sind aber nicht notwendig – waren es vermutlich wirklich nie –, um zu finanzieren. Die heutigen Finanzierer hätten viel zu tun, den Ersparnissen der Leute hinterherzulaufen, um dann dieses Geld als Kredit weiterzureichen an Menschen, die den Kredit benötigen.
Finanzierer machen ihr eigenes Geld. Computertaste drücken und schon steht das Geld dem Kreditbedürftigen auf seinem Girokonto zur Verfügung. Die „Vorfinanzierung“ ist also deshalb eine fiktive, weil sie das Geld, das sie zur Verfügung stellen, noch gar nicht haben. Sie werden es erst dann haben, wenn es ihnen der Kreditaufnehmende „zurück“gezahlt hat.
Finanzieren ist unauflösbar mit Machtausübung verbunden. Die erste Form besteht darin, dass die Finanzierer in und hinter den Geschäftsbanken dem Staat das Privileg abgerungen haben oder eher noch von diesem bereitwillig geschenkt bekommen haben, Geld selbst herzustellen. Ade Leistungsprinzip. Macht kommt vor Leistung. Geld kommt als Kredit zur Welt, aus der Perspektive des Gläubigers. Geld kommt als Schulden zur Welt, aus der Perspektive des Schuldners. Das private Geldschöpfungsprivileg der Geschäftsbanken macht es möglich.
Die zweite Form der Machtausübung besteht darin, dass die Finanzierer die erzeugten Geldströme dirigieren können. Sie lenken sie in das Vorhaben, das ihnen passt, zu demjenigen, der ihnen passt und dorthin, wo es ihnen passt. Was, wer, wo gehen leer aus, wenn sie den Finanzierern nicht passen.
Die neoliberale Wirtschaft ist eine Schuldenwirtschaft. Sie bedarf der Schulden(erzeugung), um zu funktionieren und um zu wachsen. Das Geld entsteht aus einer Schuld. Jahrhundertelang wurde den Menschen erzählt, es sei aus dem Tausch entstanden. Die Tauschfunktion gaukelt den Menschen vor, dass das Geld als objektiver Wertmesser ein Geschäft zwischen Gleichen ermögliche. Diese Gleichheit gab es nie. Auch die Messfunktion, d.h. die Münze oder die Banknote mit einer bestimmten Zahl zu vershehen, steht nur dem zu, der Macht besitzt. In einem Text des französischen Philosophen Michel Foucault mit dem Titel „Das Wissen des Oedipus“ können wir nachlesen: „Ob Tyran oder Gesetzgeber, derjenige, der die Macht hat, ist der Vermesser / der Prüfer (le métreur) der griechischen Polis (= städtische Siedlung): der Vermesser der Ländereien, der Dinge, der Reichtümer, der Rechte / Gebühren, der Befugnisse und der Menschen.“
Die allumfassende Machtstruktur des neoliberalen Kapitalismus ist die zwischen Gläubiger und Schuldner. Machtinstrumente des Gläubigers sind die moralische Schuld und die Geldschulden. Der Zugriff des Gläubigers auf den Schuldner ist ein totaler. Macher der Zukunft gegen Gefangene der Zukunft, Schuld Erzeugende gegen Schuld Beladene, Agierende Subjekte gegen funktionierende, formatierte Subjekte, Kontrolleure gegen Kontrollierte, Evaluierende gegen Evaluierte, Datenkraken gegen digital und maschinell Gesteuerte, Risiken und Kosten Abwälzende gegen Risiken und Kosten Tragende…
In einem neu aufzunehmenden Klassenkampf muss die Unterscheidung zwischen produktivem Realkapital und unproduktivem Finanzkapital fallen gelassen werden. Beide sind in unauflösbarer Weise miteinander verwoben. So wie die Machtstrukturen von Kapital und Arbeit und Gläubiger und Schuldner miteinander verwoben sind. Finanzkapital bedarf des Mehrwerts des Realkapitals. Wir müssen die Machtstruktur Gläubiger-Schuldner als etwas begreifen, das die gesamte Gesellschaft horizontal durchzieht. Die Wirtschaft, die Politik, den Staat, den sozialen Sektor. Wir müssen aus der Schuldmoral, die sich anmaßt von „guter“ und „schlechter“ Schuldenmoral zu sprechen, ausbrechen. Wenn wir uns frei machen von Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen. Wenn wir uns weigern, Schulden zu rechtfertigen. Es geht darum, dem Kapital, dem zerstörerischen Großen Gläubiger, dem zerstörerischen universellen Gläubiger den Kampf anzusagen.
Der Text von Franz Schneider beruht im Wesentlichen auf Überlegungen von Maurizio Lazarrato in seinem Buch „La fabrique de l’homme endetté. Essai sur la condition néolibérale“ (Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Essay über das Leben unter neoliberalen Bedingungen, 2011).