Am Samstag, 9. Oktober 2021, veranstaltete das Bürgerforum „Merzig-Wadern kann mehr“ in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg Stiftung die Veranstaltung „Das kranke Gesundheitssystem“. Dabei sollte die Frage geklärt werden, ob wir nur gefühlt oder tatsächlich immer schlechter versorgt werden, woran das liegen könnte und vor allem, was wir dagegen tun könnten.
Den ersten Vortrag des Abends lieferte Michael Quetting. Der examinierte Krankenpfleger ist Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen im ver.di-Landesbezirk Rheinland-Pfalz Saarland und darüber hinaus auch Pflegebeauftragter der Gewerkschaft im Südwesten.
Für Quetting hat Corona sehr deutlich gezeigt wie ernst die aktuelle Lage im stationären Bereich ist und er verwies dabei auf den Beginn der Pandemie und die Engpässe in der Masken-, Desinfektions- und Ausrüstungsversorgung. Die Angst der Menschen ob das System mit der Pandemie überfordert sei entgegnete der Referent mit der Gegenthese, dass das System schon immer überfordert war, die Pandemie diese Stelle nun aber schonungslos offenlegte.
Weitere Anhaltspunkte für die Schieflage im System lieferte Quetting mit Befragungsergebnisse bei denen bspw. 57% des Pflegepersonals angaben, dass sie die Dekubitusprophylaxe (vorausschauende Einschätzung der Risikofaktoren bei bewegungseingeschränkten Menschen, um Druckgeschwüre zu vermeiden) aus Zeitgründen nicht korrekt umsetzen könnten und weitere 25% sogar zugaben, dass sie die Hygienebedingungen (z.B. die ständige und ordnungsgemäße Desinfektion der Hände) nicht einhalten könnten – alarmierende Folgen des allseits bekannten Zeitdrucks den Pflegende erfahrungsgemäß unterliegen.
Quetting selbst gab an in seiner Zeit als Krankenpfleger vor einigen Jahren im Durchschnitt 13 Patienten pro Schicht versorgt zu haben – verglich diese Verhältniszahl allerdings mit dem Versorgungsstandard in Norwegen bei dem auf eine Pflegekraft lediglich 5 PatientInnen kommen und ergänzte zudem noch, dass in anderen Länder die Ration in der Regel eben zwischen 1:5 und 1:13 liegt. Mit Blick auf eine wissenschaftliche Untersuchungen deren Ergebnis war, dass wenn die Ration alleine schon von 1:6 auf 1:7 verringert wird potenzielle Folgen steigende Infektions- und sogar Sterblichkeitsraten sind, wird einem das Problem des Personalnotstandes erst richtig bewusst. Hart ausgedrückt bedeutet dies: zu wenig Personal in den Krankenhäuser bedeutet eine steigende Krankheitslast und damit unmittelbar verbunden steigende Todeszahlen.
All diese aktuellen Probleme führen zu der berechtigten Frage wieso das so ist? Auch darauf hat der Referent eine Antwort: die Gesundheitsversorgung wurde dem Markt untergeordnet, sie wurde also „ökonomisiert“. Begonnen hat dieser Trend in den 80er Jahren und mittelfristig zur Folge gehabt, dass das sogenannte DRG-System 2003 eingeführt wurde. Mit diesem Abrechnungssystem werden laufenden Betriebskosten der Krankenhäuser und stationären Einrichtungen durch standardisierte Fallpauschalen vergütet und schaffen somit weiter den Anreiz, dass Krankenhäuser kostenminimierend und einnahmemaximierend arbeiten.
Gleichzeitig werden dem Marktwettbewerb unterliegende Krankenhäuser nun auch dazu genötigt die Lohnnebenkosten im Blick zu haben und diese gemäß der Marktlogik zu senken. Denn eine oft zitierte Bertelsmann-Studie gab vor einiger Zeit an, dass mindestens jedes Zweite bis Dritte Krankenhaus aus ökonomischen Gründen „unnötig“ wäre. Der damit erzeugte Marktdruck hat zur direkten Folge auch, dass der Trend zur Privatisierung von Krankenhäuser sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend beschleunigt gar entkoppelt hat und vor allem freigemeinnützige Träger wie bspw. die Caritas oder die Diakonie, also Krankenhäuser die nicht primär nach Gewinn streben im Rahmen des Wettbewerbes sukzessive ausgemerzt werden.
Eine weitere Folge der Ökonomisierung des Krankenhauswesens ist es, dass private Einrichtungen sich im Rahmen des DRG-System tatsächliche auf gewisse – in jedem Fall rentable – Krankheitsbilder konzentrieren können und somit gemäß der Profitinteressen ihrer privaten Investoren wirtschaften, während kommunale Krankenhäuser welche die Funktion der Grund- und Regelversorgung erfüllen sollen – wie am Beispiel Wadern aufgezeigt –eben nicht in der Lage sind sich dementsprechend zu spezialisieren, folglich rote Zahlen schreiben und auf lange Sicht dem Wettbewerb nicht standhalten.
Die Marktlogik führt darüber hinaus auch zu auffällige Fallsteigerungen bei besonders rentablen Abrechnungspauschalen – hierzulande sind es beispielsweise insbesondere operative Eingriffe an Knie, Hüfte und Wirbelsäule. Da konservative Behandlungen weniger Geld bringen ist seit Jahren schon ein Trend hin zu „rentablen“ Operationsmaßnahmen beobachtbar. Kein Witz: Im Vergleich zu anderen Industrienationen hat Deutschland in genau diesen Sparten die höchsten Operationszahlen auf 100.000 Einwohner standardisiert.
Doch das sind nicht alle Stellschrauben die das derzeitige Krankenhaussystem unterwandert. Durch den Zwang zur Kostenreduktion werden sämtliche Aufgaben wie Putzdienste, Küche und selbst die Physiotherapie geoutsourced, d.h. an externe Unternehmen ausgelagert. Zum einen werden dadurch prekäre Beschäftigungsverhältnisse auf einen externen Arbeitsmarkt geschaffen (auf Mindestlohniveau und zumeist atypisch), zum anderen wird die ganzheitliche Versorgung des Patienten ausgehöhlt. Quetting veranschaulicht das Argument wie folgt: Eine externe Hilfskraft die den Nachttisch abwischt und dabei flüchtig die Tablettenanzahl des Patienten sieht wird sich dabei nichts denken, ein/e Pfleger/in hingegen hätte hierbei zum einen noch die Möglichkeit der Kontrolle einer korrekten Medikationseinnahme, sowie eben auch die Möglichkeit mittels eines kurzen persönlichen Gespräches „Sozialanamnese“ zu betreiben.
Traurig ist der ausufernde Trend zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens vor allem deswegen, weil es gemäß des Vortragenden durchaus einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass Gesundheit keine Ware ist und selbst ein harter Verfechter des Neoliberalismus wie Jens Spahn hat in der Pflege mittlerweile die Notbremse gezogen und den Sektor aus der DRG-Systematik ausgegliedert, weil der Personalmangel im Pflegebereich überraschenderweise eben auch mit der Ökonomisierung einhergeht.
Als einen zentralen Ansatzpunkt für einen möglichen Ausweg aus der Misere sieht Quetting den gewerkschaftlichen Fokus auf Pflegende und damit verbunden den Aufbau von Druck mittels Organisation von Streiks. Wenn es gelingt an dieser Stellschraube was zu drehen, dann – so Quetting – gelingen auch prinzipielle Veränderungen auf anderen Ebenen. Durch die Ausgliederung der Pflege aus dem DRG-System wurde nämlich der Kostendruck genommen – nach jahrelangen Kürzungen und Streichungen haben die Betreiber der Kliniken und Heime nun keinen Grund mehr, die Kostenschraube an der Personalbemessung weiter zu drehen. Daraus entsteht die essentielle Voraussetzung für mehr Personal und angemessene Bezahlungen, in der Folge auch eine bessere Betreuungsqualität für Pflegebedürftige.
Mit Blick auf die regionale Situation stellt der Referent den Verdi-Vorschlag des Verbundklinikum Saar vor. Damit gemeint ist ein gesellschaftsrechtlicher Zusammenschluss der regionalen Krankenhäuser unter demokratischer Kontrolle um profitorientierte Investoren die Stirn bieten zu können. Auch die Einbeziehung sonstiger Vertretern wie beispielsweise die Krankenkassen, Gewerkschaften aber auch die Arbeitskammer und Berufsverbände sei denkbar. Klar ist nach diesem Vortrag jedenfalls, dass der Wettbewerb auf dem Gesundheitsmarkt Krankenhäuser zu Personalabbau zwingen, das Personal als solches überfordert, prekäre Arbeitsverhältnisse schafft und nicht zuletzt die Versorgungsqualität senkt. Aber immerhin profitieren davon private Investoren.
Den zweiten Vortrag hielt Bernd Schröder, Vorsitzender der Bürgerinitiative Nordsaarlandklinik. Die Bürgerinitiative gründete sich im Sommer 2017, als es klar wurde, dass die Marienhaus Klinik das Krankenhaus in Wadern schließen möchte. Bereits am 30.11. verließ der letzte Patient das Krankenhaus und das Haus wurde geschlossen. Seither stehen Bernd und seine nun bereits fast 900 Bürgerinitiative Mitglieder jeden Freitag um 10 Uhr auf dem Waderner Marktplatz, um für ein neues Krankenhaus zu kämpfen.
Natürlich bestand die Arbeit der Bürgerinitiative aus mehr als Mahnwachen. In den vier Jahren erarbeitete das Team einen professionellen Vorschlag für ein Krankenhauszentrum, führte mehrere Infoveranstaltungen durch, sprach sogar selbst mit möglichen Trägern für ein Krankenhaus und letztlich stand in ständigem Austausch mit der Landesregierung.
Bernd Schröder erläuterte die vielen Rückschläge, Berg- und Talfahrten und die Enttäuschung über die Landesregierung, die oft mehr versprach als sie hielt.
Letztlich kam es dann aber doch zu einer offiziellen Ausschreibung für ein Krankenhaus in Wadern und der Träger SHG Klinik bekam den Zuschlag. Aktuell plant die SHG Klinik ein Versorgungszentrum mit bis zu 50 Betten. Dort soll es dann die Möglichkeit geben, dass Patienten aufgenommen werden können, die nur wenige Tage Krankenhausaufenthalt benötigen und keine komplizierten Eingriffe benötigen. Bernd Schröder erläuterte die verschiedenen Abteilungen und Fachgeräte, die geplant sind.
Letztlich sprach er aber auch für den wahren Grund der Misere, dass Gesundheit zur Ware geworden ist. Aufgrund der Einführung der sogenannten Fallpauschalen werden die Krankenhäuser nicht nach echtem Aufwand, sondern nach Fall bezahlt. So gibt es für eine Gallen-OP viel weniger Geld, als für eine komplizierte Hüft-OP. Patienten werden nicht nach Ihren Bedürfnissen versorgt, sondern so schnell wie möglich wieder entlassen oder erhalten die Empfehlung für Operationen, die ggf. garnicht notwendig oder mit konventionellen Methoden ohne OP behandelbar wären. Nicht umsonst ist Deutschland Weltmeister in Hüft- und Kniegelenksoperationen. Bernd Schröder kritisierte zudem zutiefst, dass dieses System zu immer mehr Bürokratie führt und auf Seiten der Krankenhäuser aber auch Krankenkassen zu immensem Personalbedarf führen, welcher dann für die Arbeit am Mensch fehlt.
Nach beiden Vorträgen meldeten sich auch viele Redner aus dem Publikum, welches mit Berufs- und Interessengruppen wie einem Hautarzt, KrankenpflegerInnen, AltenpflegerInnen, aber auch Friedenskämpfern sehr breit vertreten war.
Die Veranstaltung war gut besucht, sehr kurzweilig und bot vor allem seit langem mal wieder Menschen aus unserer Region die Möglichkeit sich auszutauschen und einen interessanten und schönen Abend miteinander zu verbringen.
Von der Veranstaltung wurde ein Video erstellt, das hier angesehen werden kann.