Der neue Staatskapitalismus

Übersetzung des Kapitels „Le nouveau capitalisme d’État“ (104-106) aus dem Buch des französischen Soziologen und Philosophen Maurizio Lazzarato mit dem Titel „Gouverner par la dette“ (2014). Übersetzung und Fußnoten von Prof. Franz Schneider, Saarbrücken

Zur leichteren Verstehbarkeit lesen Sie bitte bei den angegebenen Hochziffern die entsprechenden Ausführungen des Übersetzers nach dem Text.

Um das neue Zusammenspiel der Mächte und die Techniken der „gouvernementalité“1 zu begreifen, die in diesem Zusammenspiel angewandt gewandt werden, darf man folgendes nicht tun. Man darf die Krise nicht so begreifen, wie es die heterodoxe Theorie2 tut. Diese interpretiert die Krise als einen Konflikt zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Das verfolgte Ziel (des Zusammenspiels) ist nicht das, welches von den „Taliban“ des Marktes wie z.B. Friedrich August von Hayek3 vertreten wird. Hayek möchte, dass das staatliche Geld (also das gesetzliche Zahlungsmittel, FS) verschwindet. An dessen Stelle solle eine Vielzahl von Privatgeldformen treten, die gegeneinander konkurrieren. In der Krise sehen wir jedoch sehr gut, dass der kapitalistische „Apparat“ überhaupt kein Interesse hat, sich an die Stelle des Staates zu setzen. Das Problem / die Frage besteht vielmehr darin, wie sich staatliche (souveräne) und administrative Funktionen, wie sich staatliche „Regale“ (Hoheitsrechte: Währungshoheit, Steuerhoheit, Wehrhoheit, Gewaltmonopol, Rechtshoheit etc., FS) in eine neue „gouvernementalité“ integrieren lassent. Dadurch würde deren Bewerkstelligung nicht völlig dem kapitalistischen Apparat zufallen.

Das Kapital bedarf noch der Souveränität des staatlichen Geldes4. Es bedarf dessen, um die Prozesse zur Anerkennung / Akzeptanz und Überprüfung / Bestätigung oder Nichbestätigung der Schulden zu organisieren, die uns zurzeit aufgeladen werden. Das Ziel dieses neuen vielköpfigen Machtapparats besteht nicht in der radikalen Emanzipierung der ökonomischen von der politischen Sphäre. Dergestalt, dass die ökonomische Sphäre von jeder äußeren Störung, vor allem politischer Art, isoliert würde. Die heterodoxe Theorie scheint das, was wirklich geschieht, verkehrt herum zu interpretieren. Tatsächlich folgt sie der Argumentation von Karl Polyani5. Für diesen hat die ökonomische Ordnung, die ehemals in das soziale Geflecht eingebunden war, ihre Unabhängigeit erreicht und sich von der Gesellschaft (ab)getrennt.

Die Krise zeigt jedoch genau das Gegenteil. Es gibt keine Trennung von Ökonomie und Gesellschaft, sondern eine völlige Unterordnung der Gesellschaft unter die Ökonomie. Der Kapitalismus geht über die Dualismen von Wirtschaft und Soziales, von privat und öffentlich, von Staat und Markt usw. hinaus und integriert diese Dualismen. Dabei wählt er mehrere Eintrittsstellen, um „gouvernementalité“ herzustellen. Die Macht des Kapitals durchzieht Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auf breiter Front. Die „gouvernementalité“, d.h. die Erzeugung der Regierbarkeit der Menschen hat vor allem die Aufgabe zu bewältigen, für den Markt eine Verknüpfung zwischen dem ökonomischen, dem politischen und dem sozialen Bereich herzustellen.

Die neoliberale „gouvernementalité“ ist nicht nur eine ausschließlich staatliche Technik zur Herstellung der Regierbarkeit der Menschen, auch wenn der Staat dabei eine wichtige Rolle spielt. Seit den siebziger Jahren (des vorigen Jahrhunderts) erleben wir eine Privatisierung der „gouvernementalité“. Nicht mehr der Staat alleine ist damit befasst, sondern eine ganze Reihe nicht-staatlicher Institutionen („unabhängige“ Zentralbanken, Märkte, Rating-Agenturen, Pensionsfonds, supranationale Institutionen). …. Wie das funktioniert, wurde sehr gut deutlich im Handeln der Troika (Internationaler Währungsfonds, Europäische Union, Europäische Zentralbank) während der Krise.6

In einer ersten Phase haben der Staat und seine Verwaltungen die Privatisierungen vorangetrieben.7 Auf die gleiche Weise haben sie die Liberalisierung der Finanzmärkte8 und die Finanzialisierung9 von Wirtschaft und Gesellschaft organisiert. In einer zweiten Phase haben die gleichen staatlichen Verwaltungen selbst Managementpraktiken aus den Unternehmen auf Leitung, Organisation und Planung von Sozialverwaltungen und des Sozialstaats selbst angewandt.

Die Krise lässt somit in Echtzeit erkennen, wie ein Prozess entsteht und sich vertieft, den Deleuze und Guattari10 „Staatskapitalismus“ nennen. Die Verflechung von Staat und Markt, von staatlicher Souveränität und „gouvernementalité“, von Politischem und Wirtschaft, von Gesellschaft und Kapital wurde noch weiter vorangetrieben durch die Ausnutzung des Schocks, der durch den Zusammenbruch der Finanzmärkte11 entstanden war. Der wirtschaftsliberale Umgang mit der Krise zögert nicht, einen „Maximalstaat“ als eines seiner Instrumente zur Herstellung der „gouvernementalité“ zu integrieren. Allerdings hat der Staat dabei seine Souveränität nur gegenüber der Bevölkerung auszuüben. Um die Märkte zu befreien, legt der wirtschaftsliberale Umgang mit der Krise die Gesellschaft in Ketten (enchaîne la société). Er tut dies, indem er massiv und in autoritärer Weise in das Leben der Bevölkerung eindringt mit dem Anspruch, das Verhalten jedes einzelnen steuern (gouverner)11 zu können. Wie jede Form von Wirtschaftsliberalismus, erzeugt dieser Umgang Freiheiten der Besitzer von Kapitaleigentum (in Form von Wertpapieren von Unternehmen, titres du capital). Den Nicht-Besitzern von Kapitaleigentum weist sie dagegen nur einen Ersatz einer sowieso schon schwachen politischen und sozialen Demokratie zu.


1 Der Begriff der „gouvernementalité“ ist nicht mit einem einzigen Begriff ins Deutsche übersetzbar. „Gouvernementalität“ ist unbefriedigend. Ich schlage als Übersetzung die folgende Umschreibung vor „Erzeugung/Herstellung der Regierbarkeit der Menschen“.

2 Heterodoxe Theorien sind solche, die sich außerhalb der tonangebenden Theorien bewegen. Tonangebende und meinungsbestimmende Theorien werden als orthodoxe Theorien bezeichnet. Sie bewegen sich innerhalb der „Ordnung“. Eine heterodoxe ökonomische Theorie, die sich außerhalb der „Ordnung“ bewegt ist z.B. der Post-Keynesianismus (gute Erklärung bei Wikipedia).

3 Friedrich August von Hayek (1899-1992), Ökonom und Sozialphilosoph. Einer der wichtigsten Denker des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Er vertrat ein marktradikales Konzept, das jeden staatlichen Eingriff von außen als Störung des Marktes betrachtet. Dieser reguliere sich von selbst. Politischer Berater von Margaret Thatcher.

4 Auf den Punkt gebracht: „Das Kapital bedarf des Geldes, das durch den Staat und seine Steuerzahler abgesichert ist“.

5 Karl Paul Polyani (1886-1964), ungarisch-österreichischer Wirtschaftshistoriker und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Hauptwerk „The Great Transformation“ (1944). Er wies auf die über lange Zeiträume zu beobachtende zunehmende Marktorientierung hin. Er sah darin die Gefahr einer Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft.

6 Wir erinnern uns noch lebhaft daran, wie die Troika (EZB, IWF und EU-Kommission) 2015 Griechenland in der Person des linken Präsidenten Alexis Tsipras unter übereifriger Mithilfe von Finanzminister Schäuble – Gast am Katzentisch – demütigend in die Knie zwang. Unter Missachtung aller demokratischen Spielregeln. Ein anschauliches Beispiel für die von der „gouvernementalité“ verlangten Anpassungs-, Einpassungs-, kurz, Unterwerfungsprozesse auf der Makroebene. Auf der Mikroebene reichen diese bis in kleinste vorgegebene, also formatierte Handlungen jedes einzelnen Menschen im Alltag beim Kontakt mit der „Außenwelt“ hinein. Sie lassen keine Entscheidung zu, sondern müssen exekutiert werden. Exekutiert man nicht, wird man „ausgeschlossen“. D.h. Freiheit reduziert sich darauf, sich für die Exklusion, den Ausschluß „entscheiden“ zu dürfen.

7 Nur ein Beispiel von vielen: „Dresden verkauft Wohnungsbestand und wird schuldenfrei. Der Stadtrat von Dresden hat sich für den Weg in die Schuldenfreiheit entschieden: Die Stadt wird als erste deutsche Kommune ihren kompletten Wohnungsbestand verkaufen – jetzt kann sie Schulden von mehr als 700 Millionen Euro tilgen.“ So können wir lesen unter www.spiegel.de vom 09.03.2006.

8 Die Abschaffung der Bundesschatzbriefe, eine sehr demokratische Formung der direkten Finanzierung „ihres“ Staates durch die Bürger, wurde 2012 aus fadenscheinigen Kostengründen abgeschafft. Von nun an konnten die Geschäftsbanken endlich mit Staatsanleihen, die sie im sog. Bieterverfahren ersteigern dürfen, ihr Geschäft machen. Auf den Finanzmärkten wurden ganze Staaten Opfer gezielter Angriffe von Renditejägern. Diese konnten nun auf die Kursbewegungen von Staatsanleihen spekulieren.

9 Unter Finanzialisierung soll hier – vereinfachend dargestellt – die seit Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zunehmende Dominanz der Finanzmärkte über die Gütermärkte verstanden werden. Bildlich gesprochen, die Entwicklung der Preise von Kartoffeln und das Spekulieren auf diese Preise ist mir wichtiger als die Kartoffeln selbst. Da sich das Spekulieren aus realen Werten „ableitet“, spricht man von Derivaten (das „Abgeleitete“).

10 Gilles Deleuze (1925-1995), französischer Philosoph. Beschäftigte sich mit Nietzsche und pflegte eine enge Freundschaft mit dem Philosophen Michel Foucault und dem Psychiater, Philosophen und Semiologen Félix Guattari (1930-1992). Deleuze und Guattari weisen auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem Geld als Tauschmittel, das eine symmetrische Beziehung zwischen den Tauschenden voraussetzt/unterstellt, und dem Geld als Kapital hin. Geld als Kapital, d.h.Finanzierungsmittel, ermöglicht die Herstellung einer asymmetrischen Beziehung zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner. „Schuld“ und Schulden werden dabei als wirkungsvolle Machtinstrumente eingesetzt.

11 Solche Techniken lassen sich im Alltag bis in den Mikrobereich des Verhaltens beobachten. Sie wollen auf Ihrem Handy etwas nicht installieren. Trotzdem werden Sie noch unzählige Male darauf hingewiesen, ohne diese Mitteilung beseitigen zu können. Sie haben nur die Möglickeit zwischen installieren oder Installierung planen, aber nicht Installierung ablehnen. Sie möchten bei einem Unternehmen, einer Verwaltung, einem Arzt anrufen und werden in Warteschlangen abgestellt. Immer geht es um Anpassen, Akzeptieren, Unterordnen. Man kann von einer soft-power-Strategie des kapitalistischen Westens sprechen, die sich ihrer inneren Logik entsprechend eines nicht so fernen Tages mit autoritäreren Formen von „gouvernementalité“ treffen dürfte.

Übersetzung und Fußnoten von Prof. Franz Schneider, Saarbrücken