Ein Artikel in der Oberhessischen Presse vom 4.11.2020 trägt den Titel „Wozu noch Parlamente? Warnung vor Verschiebung der Macht“. Die Marburger Politikwissenschafts-Professorin Ursula Birsl, die seit Jahrzehnten zu Deutschlands politischem System forscht, nimmt darin eine relativ ausgeglichene Pro- und Kontra-Kritik der Exekutive, also der Regierung, zur Pandemie-Politik vor. Dem Parlamentarismus gibt sie für den genannten Zeitraum Schulnoten zwischen 6 und 4 minus. Sie erhebt folgende allgemeine Forderung „Was in Deutschland mit Blick auf die Demokratie allerdings gestoppt werden müsste, ist die Machtverschiebung hin zur Exekutive. Die parlamentarische Demokratie muss wieder gestärkt werden, damit die Interessen in der Gesellschaft Repräsentanz finden und einer Dynamisierung der Individualisierung von Risiken entgegengewirkt wird.“
Die Differenzierung, die Ursula Birsl zwischen Exekutive und Parlament vornimmt, mag im ersten Moment einleuchtend erscheinen. Demokratietheoretisch ist sie korrekt. Sie geht dabei aber von einer Idealvorstellung aus, die eigentlich nie die exekutive und parlamentarische Wirklichkeit bestimmt. Denn die Exekutive wird in aller Regel durch die parlamentarische Mehrheit gestützt. Das gesamte System leidet an einem demokratischen Defizit.
Seit mehr als 40 Jahren hatte die parlamentarische Macht – sie meistens identisch mit der Regierungsmacht – die Möglichkeit, zu verhindern, dass es zur Zuspitzung der nicht mehr zählbaren Probleme kommt, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Den kolossalen sozialen und ökologischen Verwüstungen. Dabei ist es sogar relativ unerheblich, ob wir zwischen Demokratien oder sonstigen Regierungsformen unterscheiden. Letztlich geht es um die fundamentale Frage, was politisches Tun als solches überhaupt noch bewirken kann. Wir landen damit bei der neoliberalen Ideologie, die die Politik für überflüssig hält, weil der Markt alles regelt. Gewisse Einschränkungen – in ihrem Sinne – gestattet die Ideologie. Dazu weiter unten noch ein paar Bemerkungen.
„Nahe an die Probleme der Menschen heranrücken“
In unseren Parteien und Parlamenten, nicht nur in Deutschland, dominiert die Vorstellung, dass man das demokratische Defizit beheben könne, wenn man nahe genug an die Menschen heranrücke. Die Menschen müssten befragt werden, welche Probleme sie drücken, welche Themen sie beschäftigen.
Ein anschauliches Beispiel aus unserem Nachbarland Frankreich. Staatspräsident Macron kam vor drei Jahren auf die Idee, dass man „die Menschen“ befragen müsste. Er hatte wohl eher widerwillig festellen müssen, dass die Menschen „draußen im Lande“ sich von ihm und er sich von ihnen/denen weit entfernt hatten.
Im ganzen Land fanden dann „grands débats“ (große Debatten) statt. In sogenannten „cahiers de doléances“ (Beschwerdeheften) wurden alle Klagen der BürgerInnen zusammengetragen. Sie sollten von parlamentarischen VertreterInnen als Anweisungen verstanden werden, die sie in ihr parlamentarisches Handeln einbringen sollten.
Was ist aus den cahiers de doléances (Beschwerdeheften) geworden? Was haben die Mehrheits-ParlamentarierInnen – offenbar im Schulterschluss mit der Regierung – daraus gemacht? Nichts. Die Hefte – und das sind Tausende – sind in Schubladen verschwunden. Da liegen sie immer noch.
Die Abwehrhaltung im Parlament ging sogar über die Mehrheits-ParlamentarierInnen hinaus. Lediglich im „radikalen“ linken Flügel (La France Insoumise) gab es Ausnahmen. Die allermeisten sahen in den Anweisungen einen Angriff auf ihr parlamentarisches Mandat, das sie doch schließlich durch ihre Wahl bekommen haben. Sie haben sich gegen nicht-mandatierte „populistische“ Eingriffe gewehrt.
Die notwendigen politischen Konsequenzen werden nicht gezogen
Die Konsequenzen, die die Verantwortlichen in unseren Parlamenten aus dieser fehlgeschlagenen politischen Marketingkampagne ziehen müssten, wären alles andere als bequem für diese. Sie müssten (sich) gestehen: Die Probleme und die Themen, die uns allen auf den Nägeln brennen, sind seit Jahrzehnten bekannt, auch den „Menschen draußen im Lande“. Wir brauchen keine neuen Befragungen. Wir brauchen kein politisches Marketing. Wir brauchen keine von Experten ausgedachte Kommunikationsstrategien, die uns sagen, wie wir das Wahlvolk auf unsere Seite ziehen können. Viele Menschen, in der Regel die, die nicht mehr zur Wahl gehen, haben das Spiel längst durchschaut.
Unsere ParlamentarierInnen müssten sich alle – auch die Linke muss sich angesprochen fühlen – die unbequeme Frage stellen, warum es ihnen nicht gelingt, das riesige Problem der weltweiten Zerstörung ökologischer und sozialer Systeme in Griff zu bekommen. Zerstörerische Tendenzen nicht mehr umkehren zu können. Eine Antwort auf diese Frage ergäbe sich nur dann, wenn sie bereit wären, sich eingehende Gedanken über das Machtphänomen zu machen. Und die Linke müsste sich eben noch eingehendere Gedanken machen als die bei ihr üblicherweise anzutreffenden.
Die perfekte Verschachtelung und Absicherung des Machtapparats
Politisches Handeln ist auf allen Ebenen – in Deutschland sind dies Kommune, Land, Bund – schonungslos mit dem Phänomen der außerpolitischen Macht konfrontiert. Politisches Handeln allgemein scheint, nein ist immer mehr zur Wirkungslosigkeit verurteilt.
Ungestörte politische Wirkung wird lediglich dann von der liberalen Marktideologie zugestanden, wenn es darum geht, Kontrollaufgaben über das „aufmüpfige Volk“ als eine Art „Bürger-Polizei“ zu übernehmen.
Vordergründig könnte die Macht als Geldmacht beschrieben werden. Macht ist auch Geldmacht, aber sie erschöpft sich nicht darin.
Die Macht hat viele Facetten. Sie ist vielschichtig. Dennoch sind diese Facetten ungeheuer systematisch, d.h. logisch stimmig organisiert und miteinander verschachtelt. Wie perfekt zueinander passende Steinchen fügen sie sich in das Gesamtmosaik des digitalen-militärisch-industriellen-wirtschaflichen-finanzwirtschaftlichen-juristischen-medialen Machtapparats ein. Und dieser Apparat hat eine geradezu historisch einmalige Form angenommen.
Und zwar aus den folgenden Gründen:
- noch nie in der Menschheitsgeschichte war es möglich, Macht territorial (gebietsmäßig) so auszudehnen wie heute. Sie reicht weit über eine rein militärische Absicherung hinaus.
- diese Ausdehnung ist durch ein technisches Instrumentarium möglich geworden, das in dieser Form noch nie zur Verfügung stand. Gemeint ist das digitale Instrument. Die Segnungen, die damit nicht bestritten werden sollen, seien einmal für ein paar Momente ausgeblendet.
- die digitale Absicherung der Macht durch Verschlüsselung. Sie erfolgt durch Spitzeninformatiker (Kryptographen = Verschlüsseler), die absolute Elite der Informatik. Sie beinhaltet die potenziell größte Gefahr. Der Auftraggeber dieser Elite ist das große private Finanzkapital.
- die Absicherung der Macht durch digitale Kontrolle. Noch nie war es möglich, dass Milliarden Menschen durch wenige so kontrolliert werden konnten wie gegenwärtig. Wenige wissen über Milliarden ALLES. Dass sich daraus ein gigantisches Sanktionierungsinstrument ergeben kann/schon ergibt, liegt auf der Hand.
- die juristische Absicherung der Macht. Sie erfolgt durch die „besten“ Spitzenkanzleien dieser Welt. Die Verträge sind so wasserdicht, dass ganze Regierungen sich daran die Zähne ausbeißen. Es sei denn, Regierungen sind bereit, Milliardensummen an Entschädigungen zu zahlen. Aber nur dann, wenn die Machtinhaber zu diesem „großzügigen“ Entgegenkommen bereit sind. Stichworte: private Schiedsgerichte, Investitionsschutzabkommen.
- die zunehmende Absicherung und Verfestigung der Macht durch unaufhaltsame Vermögenssteigerung und Vermögenserhalt. Noch nie hat die Vermögenskonzentration und damit die Entscheidungsgewalt weniger Menschen über das Schicksal von Milliarden von Menschen das gegenwärtige Ausmaß erreicht.
- die mediale Absicherung der Macht. Noch nie haben die Möglichkeiten zur Beeinflussung menschlichen Denkens und Handelns das gegenwärtige Ausmaß erreicht. In Sekundenschnelle können Nachrichten, die die Interessen der Mächtigsten in Industrie, Wirtschaft und Politik bedienen, die Weltbevölkerung erreichen.
Die Ohnmacht staatlicher und politisch-parlamentarischer Kontrolle
Staatliche oder staatlich beauftragte Kontrollorgane dieses riesigen verschachtelten Machtapparats kommen ihrem Auftrag nur ungenügend nach. Sie sind ganz einfach überfordert. Es kommt nicht von ungefähr, dass – um nur ein Beispiel zu geben – übernationale oder nationale Aufsichtsorgane unseres Geld- und Finanzsystems (Zentralbanken, Bankenaufsichten) weltweit einem Hase-Igel-Wettlauf ausgesetzt sind. Sie „spielen“ die Feuerwehr im Dauereinsatz. Diese richtet ständig ihre Schläuche auf das glühend heiße Gebälk des in sich instabilen Geld- und Finansystems (unter kapitalistischen Bedingungen), um es vor dem Einsturz zu bewahren. Wenn die Kühlung nicht ausreicht und es zum Einsturz des Gebälks kommt, ist wieder einmal die große Finanzkrise da. So wie im Jahr 2008. Krisen, wenn auch weniger stark wahrgenommen, erlebten wir auch 2015 (Griechenland) und 2019 (amerikanischer Geldmarkt). Immer wird bei diesen Krisen deutlich, in welchem Maße die Aufsichtsorgane eine Schlagseite zu Gunsten des privaten Großkapitals haben. Viele Millionen von Menschen sind die Leidtragenden. Stichwort: Austeritätspolitik mit den bekannten Folgen wie Lohnkürzungen, Entlassungen, Rückfahren und Privatisierungen öffentlicher Leistungen usw.
Können unsere Regierungen, geschweige denn die Parlamente, all diese Probleme stemmen? Dass viele das gar nicht wollen wird hier bei der Fragestellung (schmerzhaft) ausgeklammert.
Nein, sie KÖNNEN es nicht, weil sie nicht die notwendige Gegenmacht in Bewegung setzen können, um den angeführten Machtformen und ihren Absicherungsmechanismen etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen.
Lasst uns unser eigenes Ding machen!
Welche Lösung bietet sich an? Das Blasen des Halalis zum revolutionären Kampf würde nur viel kostbares Leben derjenigen kosten, die am wenigsten für die katastrophale Situation verantwortlich sind.
Eine kluge Strategie praktiziert die japanische Kampfkunst des Aikido. Dabei geht es nicht um die physische Vernichtung des Gegners, sondern um seine Neutralisierung. Man lässt ihn ins Leere laufen.
Das erreicht man am besten dadurch, dass man „sein eigenes Ding“ macht. Machen wir also unser eigenes Ding, ob jung oder alt. Lassen wir uns weder von politisch-parlamentarischem Marketing noch von einer digitalen und medialen Glitzerwelt beeindrucken. Besinnen wir uns auf unsere eigenen Fähigkeiten. Lasst uns physische Begegnungsmöglichkeiten schaffen. Verstecken wir uns nicht mehr hinter Bildschirmen. Lassen wir uns nicht beeindrucken von (auch eigenen) Leuten, die das Mikrofon und die geschliffene Rede beherrschen. Lasst uns einfach MACHEN. Fangen wir in dem Bereich an, der die wichtigste Grundlage für unser Leben ist. Bei den Nahrungsmitteln.
Das ist wichtig und fundamental. Das heißt aber auf gar keinen Fall, dort stehenzubleiben. Es geht nicht um die Schaffung einer geldlosen Idylle nach der trügerischen Vorstellung „wir tauschen, was wir brauchen“. Von vorneherein muss ganz realistisch eingeplant sein, dass wir in einer Geldgesellschaft leben müssen. Wir sind alle unweigerlich auf Geld angewiesen. Geld ermöglicht Teilhabe, Fernbeziehungen. Wir sind existenziell auf viele unterschiedliche Leistungen angewiesen, die weit über Nahrung, warme Kleidung und Behausung hinausgehen.
Ab dem ersten Moment muss der Wille da sein, auch ein gerechtes Geldsystem zu unserem „eigenen Ding“ zu machen. Diese Alternative ist möglich!
Gastbeitrag von Franz Schneider
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