Franz Josef Degenhardt zum 90. Geburtstag – Teil 2

Der nachfolgende Text erschien zum 80. Geburtstag von Franz Josef Degenhardt, also vor etwa 10 Jahren in Melodie&Rhythmus, Vol. 55, No.6, 2011. Die treffende Analyse und Wertschätzung lohnt die Wiedergabe auch aus Anlass seines 90. Gegurtstages.

Franz Josef Degenhardt – Der realistische Träumer

Von Ingar Solty

Die Biographie von Franz Josef Degenhardt besitzt unzählige Facetten: Zu würdigen wäre der Belletrist, der angefangen von seinem 1973 erschienenen, autobiographisch eingefärbten Erstlingswerk „Zündschnüre“ über Heranwachsende in der Endphase des Dritten Reiches bis zu seinem 1999 veröffentlichten Roman „Für ewig und drei Tage“ über die Zeit des Zusammenbruchs des Realsozialismus sieben erstklassige Romane und ein Kinderbuch veröffentlicht hat. Gewürdigt werden könnte durchaus auch der Wissenschaftler Franz Josef Degenhardt (FJD), der 1966 mit einer Arbeit über „Die Auslegung und Berichtigung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft“ promovierte. Schließlich wäre auch der praktische Jurist und politische Mensch Franz Josef Degenhardt zu würdigen, der als Linksanwalt der APO und öffentlicher Intellektueller in Publizistik, Radio und Fernsehen jahrzehntelang präsent gewesen ist.

In einer Zeitschrift namens „Melodie & Rhythmus“ kann jedoch nur der Liedermacher Degenhardt im Mittelpunkt stehen, der in seinen auf 26 Originaltonträgern veröffentlichten Liedern eine Chronik der Bundesrepublik Deutschland hinterlassen hat, die dieser nicht unbedingt schmeichelt. Zu den herrschenden Verhältnissen in der BRD stand der am 3. Dezember 1931 in Schwelm geborene „Karratsch“ in kompromissloser Gegnerschaft. Als Heranwachsender und junger Mann hatte er miterlebt, wie  –entgegen der weitverbreiteten Hoffnungen auf einen wirklichen Bruch mit dem Faschismus –  die alten Macht- und Eigentumsstrukturen restauriert wurden, aus denen der Faschismuseinst entstanden war. Daß Degenhardt, der wegen eines Wahlaufrufes zugunsten der neu gegründeten DKP zuvor aus der SPD ausgeschlossen worden war, sich mit Liedern wie „Ja, dieses Deutschland meine ich“ oder „Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen“ klar zu jenem Staatenblock zwischen Elbe und Stillem Ozean bekannte, der den Anspruch erhob, eine Alternativgesellschaft zum Kapitalismus aufzubauen, darauf reagierte man mit dem westdeutschen Modus der Zensur: Medialem Boykott. Seinem großen Erfolg tat dies nur zum Teil Abbruch.

Stilistisch war Degenhardt so internationalistisch wie in politischen Dingen. Er stellte den Brückenschlag her zwischen Deutschland und Frankreich, Vorfaschismus und Nachfaschismus, Ost und West. Er integrierte mittelalterlichen Bänkelgesang und französisches Chanson, Weimarer Kabarettkunst („Emigranten – Choral“) und Arbeiter-Kampflied („Wilde Gesellen“, „In Hamburg fiel der erste Schuß“, „Le Temps des Cerises“), den „singenden Proletarierjournalismus“ Nordamerikas a la Woody Guthrie u.v.m. So half Degenhardt, einen Liedermacherstil mitzubegründen, der, wenngleich seine Hochzeiten einstweilen vorbei sind, von Dieter Süverkrüp bis Marc-Uwe Kling seit einem halben Jahrhundert ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der populären Kultur ist. Kein Wunder, daß der zeitgenössische singende Journalismus, der traditionsbewußte politische Rap, dem Vorgänger Tribut zollte und in Gestalt der Lüdenscheider Rap-Veteranen Anarchist Academy mit einer eigenen Version seines wohl bekanntesten Liedes „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ die Ehre erwies und sich an der Maxime orientierte: „knallharter Gegenpart, radikal wie Degenhardt“.

Degenhardts Lieder haben Literatur im emphatischsten Sinne geschaffen. Seine Texte funktionieren als eigenständiges Erkenntnismedium. Sie sind bewusstseinsbildende Gegenwartsabbildungen, die auf Veränderung abzielendes Handeln erst ermöglichen. Degenhardts Spottlieder der frühen 1960er Jahre z.B. beschrieben die Kleinbürgerlichkeit des fordistischen Intermezzos zwischen Faschismus und Neoliberalismus und überwanden sie zugleich, in dem er sie seinem beißenden Spott aussetzte. So brachte Degenhardt einen sich vor dem Hintergrund der Vollbeschäftigung vollziehenden gesellschaftlich-kulturellen Wandel zum Ausdruck, den er, dessen Lieder von Hunderttausenden erkannt, nachgesungen und nachgespielt wurden, an vorderster Front mit beförderte. Um mit einer zunehmend entscheidenden Inspirationsquelle Degenhardts, mit Karl Marx, zu sprechen: Degenhardt brachte die scheinbar versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsang.

Alsbald zeichnete sich jedoch ab, daß man den revolutionären Charakter von 1968 überschätzt hatte. Die „Sixties“, so formulierte es sein kanadischer Liedermacherkollege Leonard Cohen, „dauerten nur 15 Minuten“. Eine Ursache sah Degenhardt in den liberal-individualistischen Strömungen innerhalb der 68er-Revolte, gegen die er sich in dieser Zeit mit Liedern wie „Die Wallfahrt zum Big Zeppelin“ richtete. Die kämpferischen Zuspitzungen behielt Degenhardt auch in den 1970er Jahren bei. In seiner sarkastisch-bösen Kritik an den „Sellouts“ der Revolution von 68 nahm er eine literarische Traditionwieder auf, die von historischen Vorläufern wie Georg Weerth nach 1848 oder Tucholsky und Brecht nach 1918 in Bezug auf die gescheiterten Revolutionen ihrer Zeit begründet worden war. In einem Punkt unterschied sich Degenhardt jedoch von Tucholsky: „Als Kommunist“, wie eines seiner Lieder heißt, nahm er die sozialliberalen Illusionisten und Opportunisten unnachahmlich treffend aufs Korn; und dennoch gelang ihm in Liedern wie „Bodo, genannt der Rote“ oder “Wildledermantelmann“ am Ende stets jener präzise dialektische Zugriff, der die Grenze zwischen revolutionärer Realpolitik und Sektierertum markiert.

Es waren aber nicht nur die deutschen Verhältnisse, die er beschrieb. Wie jenseits der Elbe die befreundeten Reinhold Andert oder Hartmut König zeigte der Internationalist Degenhardt auch ein besonderes Gespür für die historische Bedeutung der antikolonialen Bewegungen und Revolutionen der Zeit, die ein entscheidendes Moment der linken Vorwärtsepoche zwischen 1965 und 1975 bildeten. Dem fortschrittlichen Antiimperialismus verpflichtete sich FJD mit Liedern, die die Brennpunkte der westlichen Linken im Kalten Krieg besangen: Lieder widmete er sowohl den Kämpfe gegen die Diktaturen in Portugal („Grandola vila morena“) und Griechenland („Für Mikis Theodorakis“) als auch den nationalen Befreiungsbewegungen im globalen Süden – von Vietnam („Das Ereignis amMondfalterfluß“) über Peru („Fiesta Peruana“) und Chile („Station Chile“) bis Grenada („DiesmalGrenada“). Dabei verstand es sein Antiimperialismus, stets die Klassendimension mitzudenken. Immer wieder betonte Degenhardt die Existenz eines anderen Amerikas neben dem des Imperialismus („AngelaDavis“, „Ja, das ist die Sprache der Mörder“).

Das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen kommentierte Degenhardt aus marxistischer Perspektive kritisch-solidarisch. Von 1973 stammt das feministische „Moritat Nr. 218“; „Im Gonsbachtal“ist der ökologischen Frage gewidmet; 1982 entstand die bewegende „Ballade vom EdelweißpiratenNevada-Kid“ über einen schwulen Antifaschisten. Der verbürgerlicht-entpolitisierten Ökobewegung, die fließend von „Ho Ho Ho-Chi-Minh“ zu „Ho Ho Holzspielzeug“ überging, setzte er in „Rondo Pastorale“ ein traurig-nachdenkliches Denkmal. Den Irrweg des kleinbürgerlichen Linksterrorismus von RAF und Co. ironisierte er in „Bumser Pacco“. Dem seit der Krise des Fordismus wachsenden Rassismus gegen zugewanderte Arbeiter widmete Degenhardt zahlreiche Lieder wie „Tonio Schiavo“.

Degenhardt war aber nicht nur sehender Zeitgenosse. Die Qualität seiner Kunst erweist sich nicht zuletzt daran, dass seine künstlerische Sensibilität ihn auch zum zeitgenössischen Seher werden ließ. So witterte Degenhardt wie kaum jemand anders gesellschaftliche Tendenzen und warnte vor zukünftigen Entwicklungen. Die Kooptation und Einschreibung der 68er-Bewegung in den Neoliberalismus sah er früh und präzise voraus. Davon zeugt das bemerkenswerte „Arbeitslosigkeit“ von 1977. Und während viele Intellektuelle Reagan, Thatcher und Strauß/Kohl noch für konjunkturelle Pendelbewegungen des Politischen hielten, konstatierte Degenhardt 1980 mit beeindruckender Weitsicht und analytisch bestechender Präzision „Der Wind hat sich gedreht im Land“ – ein Lied, in dem er die neoliberale „Konterrevolution“ aus der Perspektive der Bourgeoisie schilderte.

Als die Rückwärtsbewegung der Linken zehn Jahre später in den Kollaps des Realsozialismus und die Neoliberalisierung westlicher Sozialdemokratien mündete, bewies Degenhardt, dass er seinen historischen und fiktiven Vorbildern – darunter die Kommunisten Rudi Schulte und Natascha Speckenbach – in nichts nach stand. 1973 hatte er dem Bauernführer Joß Fritz ein musikalisches Denkmalgesetzt, das den Untertitel „Legende von der revolutionären Geduld und Zähigkeit und vom richtigen Zeitpunkt“ trug. Im Refrain dieses Liedes, das wie so viele seiner Texte von zeitlosen Tiermetaphern geprägt ist, heißt es: „Lasst nicht die roten Hähne flattern, ehe der Habicht schreit“. Als 1989/91 viele Kommunisten zusammen mit DDR und Sowjetunion auch den Kommunismus als solchen begruben, da bewies Degenhardt langen Atem. Weil er die – menschheitsgeschichtlich betrachtet – kurze Geschichte des Kapitalismus kennt, war ihm klar, daß nicht er der Träumer war, weil er weiter an der Idee des Kommunismus und zukünftigen Sozialismusversuchen (dann wohl auch in entwickelten Ländern) festhielt. Träumer, das waren die, die sich einen schnuckligen Kapitalismus vorstellten, ganz ohne Kriseund Krieg und dazu Wohlfahrt ganz ohne Klassenkampf. Mit der gebotenen Nachdenklichkeit und der gestatteten Melancholie betrauerte er auf den insgesamt neun nach 1989 entstandenen Alben Vergangenes und Verlorenes. Er vergaß jedoch nie, den Blick weiter nach vorne zu richten. „Am Fluß“ sinnierte er über die Zukunft der kommunistischen Befreiungsperspektive. In diesen Fluß warf er seine Flaschenpost, die als „Botschaft an meine Enkelin“ nach 20 Jahren und einer Weltwirtschaftskrise endlich ihr Ziel erreicht zu haben scheint. Von Kairo bis Tunis, von Tel Aviv bis Madrid, von Madison/Wisconsin und New York bis bald wohl auch Berlin sind es die postfordistischen Enkel, die die Prekarität als die eigentliche Normalität des Kapitalismus zu begreifen lernen und dagegen aufbegehren. Das Auftaktjahr der Krise 2008 war auch das Jahr, in dem sich FJD in den verdienten Ruhestand begab. Er besang die kapitalistische Überakkumulation in „Die Ernte droht“ und reichte anschließend den Staffelstab der revolutionären Kunst weiter – nicht zuletzt an seine beiden Söhne: Kai und Jan. Das eine wache Auge im Grünen bei Hamburg weiter ungetrübt auf die Zeitläufte gerichtet, blickt er mit dem anderen auf 45 Jahre künstlerische Produktion zurück. In dieser Zeit hat FJD viele Träume geträumt. Manche davon platzten. Aber während der globale Kapitalismus in der Krise vielen seiner früheren Weggefährten die Trümmer ihrer Träume von der Harmonisierung von Kapital und Arbeit oder gar der Marktsozialdemokratie vor die Füße geworfen hat, vermochte Franz Josef Degenhardt auf seinem letzten Album mit Stolz ein Gedicht von Louis Fürnberg vertonen und singen:

„Jeder Traum, an den ich mich verschwendet, jeder Kampf, da ich mich nicht geschont, jeder Sonnenstrahl, der mich geblendet, alles hat am Ende sich gelohnt.“