Krieg in Europa

Die doppelte Gefahr der Selbstvernichtung

Kriege sind kein Zufall. Sie sind die Folge von Trends, die auch gestoppt werden können. Die Alternative wäre im Zeitalter der Technologie verheerend. Peter Brandt, Reiner Braun, Michael Müller, am 7.12.21 in der Berliner Zeitung

Ein Glasfenster im Immanuel-Kant-Museum in Kaliningrad.

1. Kriege fallen nicht vom Himmel. Ihre Ursachen liegen in internationalen Machtverhältnissen, wirtschaftlichen Interessen und expansiven Ideologien, in sozialen Ungleichheiten, kulturellen Konflikten und heute insbesondere in ökologischen Bedrohungen, die vom Kampf um Öl bis zu den heraufziehenden Bedrohungen der vom Menschen verursachten Klimakrise reichen. In unserer Zeit, in der die gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten ständig zunehmen, in der sich Krisen grenzüberschreitend auswirken, in der globale Waffen jeden Punkt der Erde erreichen können, kann internationale Sicherheit keine militärische Frage sein und schon gar nicht einseitig erlangt werden.

Aber die Militärausgaben steigen, liegen bei knapp 2 Billionen US-Dollar heute sogar höher als in der Zeit der in Ost und West geteilten Welt. Dabei entfallen in der Rangliste auf die ersten zehn Länder 75 Prozent der Ausgaben. Unser Land hatte in den letzten zwei Jahren nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI den höchsten Zuwachs unter ihnen und liegt bereits auf Platz sieben. Sollte tatsächlich das falsche Ziel von zwei Prozent Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von der Bundesregierung durchgesetzt werden, stieg unser Land je nach wirtschaftlicher Entwicklung mit fast 90 Mrd. US-Dollar auf Platz vier auf. Und die Militärbündnisse wie die Nato verschärfen die Konfrontation weiter.

Zu dieser angeblichen Alternativlosigkeit gibt es eine Alternative, die Idee der gemeinsamen Sicherheit, die heute in einer erweiterten Form, die soziale und ökologische Fragen einbezieht, auf die Tagesordnung der nationalen und internationalen Politik gehört. Das ist die logische Konsequenz aus den zerstörerischen Waffen, über die alle Seiten verfügen oder verfügen können.
Deshalb ist ein qualitativer Sprung im Denken notwendig, wie auch Willy Brandt uns mahnte: „Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser sich wieder einmal ein falsches Bett zu graben versuchen sollte.“ Unser Kriterium für Abrüstung und Entspannung ist das Kant’sche Prinzip der Vernunft, dessen Gültigkeit unbedingtes Gebot werden muss und jederzeit zu gelten hat: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Konzept werde.“ An die Stelle des Zwillingspaars Aufrüstung und Abschreckung müssen Entspannung und gemeinsame Sicherheit treten. Die Suche nach Gemeinsamkeit ist die Kernforderung in den drei großen UN-Berichten der 1980er-Jahre: „Gemeinsames Überleben“, der Nord-SüdBericht von Willy Brandt; „Gemeinsame Sicherheit“ für die Friedens- und Entspannungspolitik von Olof Palme; „Unsere Gemeinsame Zukunft“, der Report zu Umwelt und Entwicklung von Gro Harlem Brundtland, der von dem Leitziel der Nachhaltigkeit ausgeht. Diese Berichte müssen in einem Zusammenhang gesehen werden. Erst dann wird auf der zusammengewachsenen Welt eine gute Zukunft für alle Menschen möglich.

Die Vorschläge der UN-Kommissionen sind angesichts neuer Aufrüstung, zunehmender Konfrontation zwischen Nato, Russland und China sowie wachsender sozialer und ökologischer Konflikte wichtiger denn je, um Orientierung zu geben, auch und gerade in der Sicherheitspolitik. Statt des Hobbes’schen Ideals einer übermächtigen Gewalt, dass der Welt eine militärische Ordnung aufzwingt, heißt es dort: „Beide Seiten müssen Sicherheit erlangen, nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm“. Die Friedens- und Sicherheitspolitik muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden und soziale und ökologische Gefahren einbeziehen. Das verlangt eine Politik der Kooperation.

Von dem Zivilisationstheoretiker Norbert Elias wissen wir, dass gesellschaftlicher Fortschritt eine „soziale Verregelung von Gewalt“ erfordert. Auch heute in einer Zeit, in der die bisher starren und gleichförmigen Fronten, die in den letzten Jahren unser Leben geprägt haben, aufgebrochen sind – zwischen Kapital und Arbeit, Wirtschaft und Natur, Ost und West, Nord und Süd. Das heißt nicht, dass die alten Konflikte überwunden sind. Im Gegenteil: Die vorherrschende Gesellschaftsstruktur bleibt aufgrund ihrer Verwertungsdynamik und Konsumordnung darauf ausgerichtet, ihre eigenen Ressourcen systematisch zu vernutzen und damit die sozialen Unterschiede wieder zu vergrößern. Es ist sogar immer weniger möglich, auf die Wunden noch Pflaster zu kleben. Das 21. Jahrhundert droht zu einem Jahrhundert
erbitterter Verteilungskämpfe und neuer Gewalt zu werden. Doch in dem „symbolischen Kapitalismus“ (Nancy Fraser) aus Wall Street, Amazon,
Hollywood und Silicon Valley, der die globale Meinungsführerschaft übernommen hat, ist es schwieriger geworden, Orientierung zu geben. So ist in keiner anderen existenziellen Frage der Widerspruch zwischen der Bedeutung des Themas und der öffentlichen Aufmerksamkeit, die ihm gewidmet wird, so groß wie beim Friedensthema, bei der Warnung vor neuer Gewalt und Krieg. Deshalb braucht unser Land eine starke Friedensbewegung.

2. Der Wiener Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat den tiefgreifenden Wandel der westlichen Gesellschaftsordnungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen weitreichenden sozialen Folgen als Große Transformation beschrieben, der nicht nur durch die Industrialisierung, sondern auch durch politisches Handeln (oder besser Nichthandeln) verursacht wurde. Polanyi sah in der Herausbildung von Marktwirtschaft und Nationalstaat, zwischen denen es intensive Wechselbeziehungen gab, die Grundlagen einer Marktgesellschaft.

Die politisch gewollte Verselbständigung der Wirtschaft hatte fatale Folgen. Das ungeregelte Marktprinzip wurde zur Ursache tiefer Krisen. Bei Polanyi hieß das: Die Marktkräfte erniedrigen die menschlichen Tätigkeiten, erschöpfen die Natur und machen Währungen krisenanfällig. Der Umbruch war kein evolutionärer Selbstlauf, sondern die Folge freier Märkte, um einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Die liberale Utopie dachte, dass Arbeit, Natur und Geld dafür zu nichts als Waren werden müssten, ohne Rückbindung an die
Lebenswelten und Ökosysteme. Für Polanyi war das die „mystische Bereitschaft, die sozialen Konsequenzen ökonomischer Verbesserungen gleich welcher Art hinzunehmen“.

Das unkritische Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte hatte nicht nur verheerende soziale Folgen, sondern führte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den großen Katastrophen der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise. Denn die Folgen der „Entbettung“ der Wirtschaft aus gesellschaftlichen Bindungen führten zu „Doppelbewegungen“, wie Polanyi die sozialen Reaktionen nannte. Das „polanyische Pendel“ kann in zwei Richtungen ausschlagen. In die Richtung des demokratischen Wohlfahrtsstaates, wie das 1933 mit dem New Deal in den USA geschah, oder in Richtung von Faschismus und Nationalismus, die in Deutschland zur traurigen Realität wurden. Erst nach diesem dunklen Kapitel konnte sich der Wohlfahrtsstaat durchsetzen, der bis Ende der 1970er-Jahre stabil blieb. Seitdem kam es zum Aufstieg von Neoliberalismus und Finanzkapitalismus. Erneut erleben wir eine Große Transformation, vorangetrieben durch die Globalisierung der Märkte, die Digitalisierung der Welt und die neoliberale Politik. Der Wirkungsraum der Wirtschaft ist stärker geworden als der der Politik.

Aber auch der frühere sozialstaatliche Zustand kann nicht einfach wieder hergestellt werden. Wir überschreiten nämlich ökologische Grenzen des Wachstums. Seit der industriellen Revolution haben sich die Eingriffe in die Öko-Systeme mehr als verhundertfacht, hat sich die Nutzung natürlicher Ressourcen in den Industriestaaten pro Kopf mehr als verzwanzigfacht,
ist die Weltbevölkerung fast auf das zehnfache angestiegen. Dadurch wurde in diesem Jahr der Welterschöpfungstag bereits Ende Juli erreicht, den Rest des Jahres lebt die Menschheit auf Kosten der Substanz. Um zu einem biologischen Gleichgewicht zu kommen, bräuchten wir 1,75 Erden. Die Frage ist, wieviel trägt und erträgt er noch, unser Planet?

3. Wir sind Bürgerinnen und Bürger einer Welt, die neu begreifen müssen, wie eine sichere Zukunft aussehen kann. Siegfried Lenz warnte bereits 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises, dass die Welt „am Rande des Friedens“ stünde. Mehr noch: Die doppelte Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit wird denkbar. Die großen Hoffnungen der Charta von Paris 1990, in der sich die europäischen Staaten sowie Kanada und die USA auf das Ziel von Abrüstung und einem atomwaffenfreien Europa verständigt hatten, sind schnell wieder verflogen. Die atomare Gefahr wird wieder größer und damit ein großer Krieg, der alles vernichten kann. Genauso trübe sieht es mit den Rüstungskontroll- und Rüstungsverbotsabkommen aus. Die Aufkündigung des Verbots landgestützter Mittelstreckenraketen (INF), das Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1987 unterzeichnet hatten, war ein schwerer Rückschlag. Damit brach ein zentraler Grundpfeiler der internationalen Sicherheitsordnung weg, der zur Verschrottung von mehr als 2600 landgestützter Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern geführt hatte.

Gefährdet ist auch die Verlängerung des New-Start-Abkommens, das die nukleare Stabilität zwischen den USA und Russland regelt, die zusammen über mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen verfügen, das europäische System der Rüstungskontrolle ist zusammengebrochen. Sogar in Westeuropa werden Stimmen lauter, die eine nukleare Option fordern. Die Gemeinschaft der Atomwissenschaftler hat die „Weltuntergangsuhr“ bereits auf 100 Sekunden vor 12 gestellt.

Das Ende des menschlichen Lebens wird aber auch durch die Überlastung und Zerstörung der Natur denkbar, die in den letzten Jahrzehnten eine globale Dimension angenommen haben. Schon bald können weitere 1,5 Milliarden Menschen und die Industrialisierung zusammen mit der Erderwärmung, Peak-Oil, Peak-Water und dem Zusammenbruch landwirtschaftlicher Systeme Synergien auslösen, deren destruktive Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. In vier von neun Dimensionen des Erdsystems werden bereits planetarische Grenzen überschritten: Klimasystem, biologische Vielfalt, Stickstoffkreislauf und Süßwasserreserven. 1,5 °C, die erste kritische Marke der Erderwärmung, wird wahrscheinlich noch in diesem Jahrzehnt erreicht werden. Dennoch bleibt das Abkommen von Paris zum Klimaschutz von 2015 weit hinter dem Notwendigen zurück. Würden die Selbstverpflichtungen, die dort vorgelegt wurden, aber nicht sanktioniert werden können, umgesetzt, stiege die Erderwärmung bis zum Ende unseres Jahrhunderts immer noch um 2,8 bis 3,2 °C an.

Die Klimakrise spaltet die Welt und gefährdet in einem bisher unbekannten Ausmaß die nationale und internationale Sicherheit. Große Migrationsbewegungen und erbitterte Verteilungskämpfe um Wasser, Land und Flüchtlinge gehören zu den Folgen. Der alte Kolonialismus der Welt findet in einer neuen ökologischen Form seine Fortsetzung. Sicher wird ein reicher Teil der Welt versuchen, sich in grünen Oasen des Wohlstands von der unwirtlich werdenden Welt abzuschotten, auch mit militärischen Mitteln.

Notwendig ist ein grundlegender Kurswechsel, sowohl durch ein System gemeinsamer Sicherheit als auch durch die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation, die zu einer nachhaltigen Entwicklung führt, den Zusammenhalt Europas stärkt und weltweit ausstrahlt. Die Wegscheide wird immer deutlicher: Entweder kommt es zu einer neuen Phase von Abrüstung, Entspannung und friedlicher Zusammenarbeit oder die globalen Konflikte münden in neuer Gewalt. Kurz: Die Atomwaffen sind der schnelle Selbstmord, der Klimawandel die langsame Selbstvernichtung. Es ist höchste Zeit, das Ruder rumzureißen

Peter Brandt,
Prof. Dr. Historiker, Sprecher der Initiative „Neue Entspannungspolitik jetzt!“
Reiner Braun,
Präsident des Internationalen Friedensbüros
Michael Müller,
Bundesvorsitzender der Naturfreunde, Parlamentarischer Staatssekretär a. D.

Die drei Autoren gehören dem Lenkungskreis der Initiative
Abrüsten statt Aufrüsten“ an.