Eine Weihnachtsgeschichte von Maksim Gorki

„Von dem Jungen und dem Mädchen, die nicht erfroren sind“ – Auszug

Vorbemerkung von Maksim Gorki:
In den Weihnachtserzählungen ist es seit jeher Brauch, alle Jahre eine Anzahl von armen Kindern erfrieren zu lassen. Der Junge oder das Mädchen aus einer ordentlichen Weihnachtserzählung stehen gewöhnlich vor dem Fenster irgendeines großen Hauses, betrachten durch die Scheiben voller Bewunderung den Weihnachtsbaum, der in den luxuriösen Zimmern erstrahlt, und dann erfrieren sie, nachdem sie eine Menge Unangenehmes und Bitteres erfahren haben.

Ich verstehe die guten Absichten der Autoren von Weihnachtserzählungen, ungeachtet des grausamen Umgangs mit ihren Personen. Ich weiß, dass sie, die Autoren, die Kinder erfrieren lassen, um reiche Kinder auf ihre Existenz aufmerksam zu machen, aber ich persönlich kann mich nicht entschließen, auch nur einen Jungen oder ein Mädchen erfrieren zu lassen, nicht einmal für einen so lobenswerten Zweck /…/
Deshalb ziehe ich es vor, von einem Jungen und einem Mädchen zu erzählen, die nicht erfroren sind.

(Der Text ist in deutscher Sprache zuletzt erschienen in dem Band “Weihnachten auf Russisch”, hrsg. v. Olga Kaminer, List Tb. 2008)

Dieser Beitrag beschränkt sich darauf, die letzten Seiten der Weihnachtserzählung Gorkis wiederzugeben.

Sie gingen nebeneinander her mit dem gesetzen Gang ernsthafter und in ihre Sorgen vertiefter Menschen.
„Ich habe dich vorhin belogen… Der Herr hat mir ein Zwanzigkopekenstück gegeben… Und vorher habe ich auch gelogen, damit du nichts sagst, es ist Zeit nach Hause zu gehen. Heute ist ein richtig erfolgreicher Tag! Weißt du, wieviel wir zuammenbekommen haben? Einen Rubel und fünf Kopeken! Viel!..“
„Ja-a!“, flüsterte Kat’ka. „Für soviel kann man ja ein ganzes Paar Schuhe kaufen… „
„Ach was, Schuhe! Schuhe klaue ich dir, warte nur ab… Ich habe schon lange ein Paar im Auge, die schnappe ich mir… Aber jetzt sage ich dir was: Wir gehen ins Wirtshaus, verstehst du?“
„Die Tante wird es wieder erfahren und dann setzt es was, wie damals!“, sagte Kat’ka in nachdenklichem Ton, aber darin klang auch der Vorgeschmack auf die Wärme mit.
„Setzt es gar nichts! Wir, Kumpel, suchen uns ein Wirthaus, wo uns keine Menschenseele kennt.“
„Ach so!“, flüsterte Kat’ka hoffnungsvoll.
„Also erstmal kaufen wir ein halbes Pfund Wurst – 8 Kopeken; ein Pfund Weißbrot – ein Fünfer… Das sind dreizehn! Dazu für jeden ein Brötchen aus Blätterteig, zusammen 6 Kopeken, macht zusammen 19. Dann Tee für zwei, nochmal 6, macht zusammen einen Viertelrubel! Und da bleibt uns noch…“
Mischka verstummte und blieb stehen. Kat’ka sah ihn ernst und fragend an.
„Es ist schon schrecklich viel Geld“, sagte sie zaghaft.
„Sei still… Überhaupt nicht viel… Zu wenig! Wir leisten uns nochmal 8 Kopeken… macht 33! Es ist Weihnachtszeit… Und dann bleiben immer noch über 70! Siehst du, wieviel! Was will sie noch mehr, die alte Hexe? Auf geht’s!“
An den Händen gefasst, liefen sie hüpfend über den Bürgersteig. Der Schnee wehte ihnen entgegen und verklebte die Augen. Manchmal bedeckte sie ein Schneewolke von Kopf bis Fuß und hüllt die beiden kleinen Figuren in ein durchsichtiges Tuch, das sie rasch zerrissen in ihrem Streben nach Wärme und Nahrung…
„Weißt du“, fing Kat’ka an, ganz außer Atem vom Laufen, „mach was du willst… aber wenn sie es erfährt… dann sage ich, dass du dir das alles ausgedacht hast. Du rennst einfach weg und fertig, aber mir geht es schlechter… mich kriegt sie immer und verhaut mich schlimmer als dich… Sie mag mich nicht… Ich sage es ihr, denk dran!“
„Na gut, sag’s ihr“, nickte Mischka. „Wenn sie dich verhaut.., das heilt wieder… Sag’s ihr ruhig.“
Er war ganz von Trotz und Stolz erfüllt und ging pfeifend seines Wegs, den Kopf nach hinten geworfen. Sein Gesicht war abgemagert, mit spitzbübisch blickenden, aber auf eine unkindliche Art harten Augen und einer spitzen, ein wenig gebogenen Nase.
„Da ist das Wirtshaus… Sogar zwei! In welches gehen wir?“
„Lass uns in das niedrige gehen… Zuerst in den Laden… Los!“
Und nachdem sie alles wie vorgesehen gekauft hatten, gingen sie in das niedrige Wirtshaus.
Das Wirtshaus war angefüllt mit Dunst, Rauch und einem säuerlichen, betäubenden Geruch. In der dichten rauchigen Dunkelheit saßen an den Tischen Kutscher, Vagabunden, Soldaten; zwischen den Tischen huschten unglaublich schmutzige Kellner herum, und das alles schrie, sang und schimpfte…
Mischka entdeckte mit scharfem Blick ein freies Tischchen in einem Winkel und ging, geschickt lavierend, dorthin. Er zog sich schnell aus und machte sich auf zum Büfett. Kat’ka fing auch an sich auszuzihen, wobei sie zaghaft um sich blickte.
„Onkelchen“, sagte Mischka zu dem Büfettier, „gestatten Sie, ich bekomme zwei Tee“, und dabei schlug er leicht mit der Faust auf die Tischplatte.
„Tee willst du? Bitte sehr. Nimm dir selbst… und geh dir heißes Wasser holen… Aber pass auf und mach nichts kaputt. Sonst setzt es was!“
Aber Mischka war schon unterwegs nach dem heißen Wasser.
Zwei Minuten später saß er mit seiner kleinen Gefährtin in würdevoller Haltung am Tisch, zurückgelehnt auf seinem Stuhl, mit der wichtigen Miene eines Lastenkutschers, der gerade seine Arbeit beendet hat – und drehte sich konzentriert eine Zigarette aus Machorka. Kat’ka betrachtete ihn mit Bewunderung für seine Fähigkeit, sich an einem öffentlichen Ort richtig zu benehmen. Sie konnte sich noch ganz und gar nicht an die mächtige, ohrenbetäubende Harmonie des Wirtshauses gewöhnen und erwartete insgeheim ständig, dass man ihnen beiden „eins hinter die Ohren geben“ und sie hinauswerfen würde oder etwas noch Schlimmeres geschehen würde. Aber vor Mischka wollte sie sich ihre Befürchtungen nicht anmerken lassen, und gab sich Mühe, einfach und unabhängig um sich zu blicken, während sie ihre flachsblonden Haare glatt strich. Diese Anstrengungen riefen immer wieder eine Röte auf ihren schmutzigen Wangen hervor und ein verlegenes Blinzeln mit ihren blauen Äugelchen. Und Mischka hielt ihr einen belehrenden Vortrag, wobei er sich bemühte, in Ton und Ausdrucksweise den Hofarbeiter Signej nachzuahmen, einen sehr soliden Menschen, obgleich er ein Säufer war und vor kurzem eine dreijährige Gefängsnistrafe wegen Diebstahls abgesessen hatte.
„Also du, sagen wir mal so, winselst um eine Gabe… Aber wie winselst du? Das taugt überhaupt nichts, um die Wahrheit zu sagen. „Ge-eben Sie, ge-eben Sie!“ Hat das etwa einen Sinn? Vor die Füße musst du ihm laufen, dem Passanten… Und versuche es so zu machen, dass er Angst hat, über dich zu fallen…“
„Ich werde es so machen“, stimmte ihm Kat’ka gehorsam zu.
„Na also“, nickte ihr Kamerad ihr zu, „so ist es recht. Und noch etwas: wenn, sagen wir mal, Tante Anfisa dich…Was ist denn diese Anfisa?… Eine Säuferin, zuerst mal! Und dann…“
Und Mischka erklärte offen, was Tante Anfisa dann noch war.
Kat’ka nickte mit dem Kopf, voll einverstanden mit Mischkas Definition.
„Du gehorchst ihr nicht… Das muss man nicht so machen. Du sagst ihr einfach, Tantchen, ich, sagst du ihr, habe nichts gegen Sie, ich werde auf Sie hören… Soll heißen, schmier ihr Saft ums Maul. Und dann mach, was du willst… So macht man das.“
Mischka schwieg und kratzte sich würdevoll am Bauch, wie Signej es immer machte, wenn er eine Rede beendet hatte. Weitere Themen standen ihm nicht zur Verfügung. Da schüttelte er den Kopf und sagte:
„Na, lass uns essen.“
„Oh ja!“, stimmte Kat’ka ihm zu, die schon lange mit gierigem Blick das Brot und die Wurst betrachtet hatte.
Und dann begannen sie in dem Halbdunkel des von verrussten Lampen schlecht erleuchteten Wirthauses und im Lärm zynischer Flüche und Lieder ihr Abendbrot. Sie aßen beide mit Gefühl, mit Verstand und mit kleinen Pausen, wie echte Feinschmecker. Und wenn Kat’ka aus dem Takt geriet und gierig einen zu großen Bissen nahm, wovon sich ihre Backen aufblähten und die Augen sich in komischer Panik weit öffneten, brummte Mischka spöttisch:
„Na, Mütterchen, hast dich wohl übernommen.“
Das brachte sie in Verlegenheit und sie bemühte sich, halb erstickt, die schmackhafte Speise schneller durchzukauen.
Nun, das ist alles. Jetzt kann ich sie beruhigt verlassen, damit sie ihren Weihnachtsabend zuende bringen können. Sie werden – glaubt mir das – nicht mehr erfrierern. Sie sind an ihrem Platz… Wozu sollte ich sie erfrieren lassen?..
Meiner Meinung nach ist es ganz unsinnig, Kinder erfrieren zu lassen, die alle Möglichkeiten haben, auf einfachere und natürlichere Weise umzukommen.


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